Wann haben Menschen das Recht, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten?

Ein Text von: Julian Theo Wacker
Gelesen von: Petra Beck

When do people have the
right to resist state authority?

Written by: Julian Theo Wacker
Read by: Daniella Boyd

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Revolutionen liefern Bilder und Motive, die wir seit Jahrhunderten kennen: Bürger:innen, die auf die Straße gehen und gegen die eigene Regierung aufbegehren, stehen der exekutiven Staatsmacht in Form von Polizei und Militär gegenüber. Doch wann und wie hat eine Gesellschaft überhaupt das Recht, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten?

In der Bundesrepublik Deutschland genießen die Bürger:innen einerseits Meinungs- und Versammlungsfreiheit und dürfen somit protestieren, demonstrieren und zu Kundgebungen aufrufen. Andererseits sieht das Grundgesetz in Artikel 20 ein Recht auf Widerstand vor, um die freiheitlich-demokratische und verfassungsmäßige Ordnung zu bewahren. „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Die Existenz eines für jeden Menschen gültigen und naturrechtlichen begründeten Rechts auf Widerstand ist in der Bundesrepublik gesetzlich verankert, in der politischen Theorie und Staatsphilosophie jedoch seit Jahrhunderten umstritten.

Denn gerade im Kontext revolutionärer Bewegungen wie der Thawra im Libanon, entfaltet das Recht auf Widerstand Resonanz und Sprengkraft. Überschattet von der latenten Drohung, Gewalt einzusetzen, treffen libanesische Armee und Bevölkerung aufeinander.

In Beirut und anderen Städten im Libanon ist das schiere Ungleichgewicht zwischen aufbegehrenden Bürger:innen und der Regierung erschreckend. Unbewaffneten Frauen, Männern und Kindern in T-Shirt und Jeans stehen mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten in Kampfmontur gegenüber. Doch die Kraft einer Revolution speist sich auch im Libanon aus der Zahl ihrer Unterstützer:innen und lebt von der Stärke des gemeinsamen Protestierens. Dabei ist das einende Moment revolutionärer Bewegungen nicht einfach nur der Wunsch nach Veränderung, sondern der gemeinsam gefühlte Konsens, auf Grundlage eines Rechts auf Widerstand zu handeln. Dass es sich bei der Thawra um
mehr als einen Protest oder eine Demonstration handelt, wird vor allem vor dem Hintergrund deutlich, dass es auch darum ging, Ministerpräsident Saad Hariri abzusetzen.

Das Recht auf Widerstand berührt einen empfindlichen Punkt aller Staatsformen und Rechtssysteme. Wann darf eine Gesellschaft Widerstand gegen den eigenen Staat leisten? Muss dieses Recht überhaupt verbrieft sein oder ist es ohnehin in und mit unserer Existenz verankert? Egal ob Demokratie oder Autokratie, ob Monarchie oder Republik – das Recht, Widerstand gegen Staat und Regierung zu leisten, bewegt sich außerhalb dieser zwar allgemein anerkannten, aber gleichsam künstlichen Systemvorstellungen. Dass Menschen, wie im Libanon, außerhalb geltender Rechtsnormen handeln, aufbegehren und einen politischen Umsturz fordern, zeigt, wie real das Recht auf Widerstand ist – egal ob gefühlt oder tatsächlich faktisch und gesetzlich verortbar.

Lilian Mauthofer präsentiert mit ihren Fotografien zur Thawra einem europäischen Publikum in beeindruckender Weise, dass Revolutionen nicht nur Teil unseres Geschichtsunterrichts sind, sondern jetzt stattfinden. Wie fragil politische Systeme außerhalb unseres Betrachtungshorizonts sein können und wie sich Enttäuschung und Wut über die politische Kaste des Libanon Bahn brechen, ist auf den Bildern allgegenwärtig.

Den Revolutionär:innen der Thawra obliegt in ihrem Kampf für mehr Gerechtigkeit und bessere Lebensumstände dabei auch eine große Verantwortung, denn Revolution ist nicht nur Kampf und Umwälzung, sondern auch Verantwortung und Verhältnismäßigkeit.

Revolutions provide images and motives that we have known for centuries: Citizens who take to the streets and rebel against their own government face the authority of the state in form of police and military. But when and how does a society have the right to resist state authority?

In Germany, citizens enjoy freedom of opinion and assembly and are thus allowed to protest, demonstrate and call for rallies. At the same time, Article 20 of the German constitution, the Basic Law, provides for a right of resistance in order to preserve the free democratic and constitutional order. „Against anyone who undertakes to abolish this order, all Germans have the right to resist if other remedies are not possible.“ In Germany, the existence of a right of resistance is enshrined in law, but has been disputed in political theory and state philosophy for centuries.

For it is precisely in the context of revolutionary movements such as the Thawra in Lebanon that the right of resistance develops resonance and explosive power. Overshadowed by the latent threat to use violence, army and population in Lebanon clash. In Beirut and other Lebanese cities, the sheer imbalance between rebellious citizens and the government is appalling. Unarmed women, men and children in T-shirts and jeans are facing soldiers in combat gear, armed with machine guns.

But the revolutionary power in Lebanon is fed by the number of its supporters and gains strength from rallies and joint protest. Yet the unifying moment of this revolutionary movement is not simply the desire for change, but a commonly felt consensus to act on the basis of a right to resist. The Thawra is more than just a protest or a demonstration. This becomes particularly clear against the background that it was also about deposing Prime Minister Saad Hariri.

The right to resist touches a sensitive point of all forms of government and legal systems. When is a society allowed to resist and overthrow its own government? Does this right have to be enshrined in law at all, or is it already enshrined in and with our existence? Whether democracy or autocracy, monarchy or republic – the right to resist state and government is outside of these generally accepted, but at the same time artificial systems. The fact that people, as it ist he case in Lebanon, act, rebel and demand a political overthrow outside of valid legal norms shows how real the right to resist is – whether it is felt or actually legally justifiable.

Lilian Mauthofer’s Thawra photographs impressively show a European audience that revolutions are not only part of our history lessons, but are taking place right now. Mauthofer captures anger, disappointment, and how fragile political systems actually are. In their fight for more justice and better living conditions, the revolutionaries of the Thawra also have a great responsibility, because revolution is not only struggle and upheaval, but also responsibility and obligation.