Wärst du gerne Teil einer Revolution?

Ein Text von: Janina Junge
Gelesen von: Daniella Boyd

Would you like to be part of a revolution?

Written by: Janina Junge
Read by: Ralph Williams

Text anhören:

Listen to text:

“[D]er Sinn von Revolution ist die
Verwirklichung eines der größten und
grundlegendsten menschlichen Potenziale,
nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu
sein für einen Neuanfang […].”¹

– Hannah Arendt

Ein Meer aus Menschen, hochgerissenen Armen, geschwenkten Fahnen, Blitzlichtern von Handykameras und zwei Megafonen. Alles in ein rötliches Licht getaucht. Die Menge in einer Straße, dicht an dicht, vor einem den gesamten Hintergrund der Fotografie ausfüllenden Gebäudeblock. Eine Straße gibt es nicht mehr, die Menschen haben sie komplett für sich eingenommen.

Die obere Bildhälfte wird dominiert von geschwenkten libanesischen Fahnen. Wie „das Hissen der Flagge [bei territorialen Besitzergreifungen]“² fungiert das Schwenken der libanesischen Flagge in diesem Protest: Hier ist es nicht die Besitzergreifung eines fremden Bodens, sondern die Wiederinbesitznahme des eigenen Bodens durch die allgemeine Öffentlichkeit selbst; angeführt von Frauen*. Die Menschen wollen das Land nicht mehr von korrupten Regierungen geführt sehen und fordern ihr Recht auf Mitbestimmung ein. Die Fotografie teilt sich durch eine Lücke in der Menschenmasse diagonal von rechts unten nach links oben. Die rechte Bildhälfte würde sich kunsthistorisch wunderbar in die Darstellungen zahlreicher Siegeszüge oder Protestmärsche einreihen lassen: Alle Körper sind in die gleiche Richtung gedreht; es gibt Fahnen und entsprechende Gesten. Solche Darstellungen gibt es auch von der Französischen Revolution wie Bilderzeugnisse vom Zug der Marktfrauen nach Versailles am 5. Oktober 1789 bezeugen. 3 Auch hier sind es Frauen*, die protestieren gehen.

Während wir heute solch eine dynamische Szenerie von vielen Demonstrationen kennen, bekommen wir auf der linken Seite der Fotografie eine andere Szene zu Gesicht: Hier sind Menschen in die entgegengesetzte Richtung gedreht. Nicht aber um als Gegenseite zu fungieren, wie auf zahlreichen Demonstrationen zu beobachten ist, wenn beispielsweise die Polizei sich vor Demonstrierenden aufreiht. Die Menschen scheinen sich eher um einen im Zentrum der Fotografie befindenden Mann* zu versammeln. Zu sehen ist zwar nur der obere Bereich seines Körpers – der Rest verschwindet in der Menge – doch seine weit nach oben gerissenen Arme werden nicht nur durch die extreme Haltung betont, sondern zusätzlich durch deren Beleuchtung. Diese Handgeste könnte ein Zeichen von Jubel sein. Wir kennen sie aber auch von Reden, wenn die vortragende Person um Ruhe bittet.

Die Rolle des Mannes* auf der Fotografie als Redner wird durch das Megafon in seiner linken Hand noch verdeutlicht. Das Megafon kann als Symbol für die Stimme der Bevölkerung gelesen werden, die sich gegen die Regierung erhebt. Die Menge versammelt sich um diesen Mann* herum, um ihm zuzuhören. In der Thawra haben Frauen* eine führende Rolle. Die Fotografie verweist aber auf eine andere Situation. Keine der Frauen* ist hier Wortführerin. Die Männer* besetzen die Sprechrollen, denn auch das zweite Megafon in der Fotografie befindet sich im Besitz eines Mannes*. Haben die Frauen* ihre Sprachgewalt zugunsten der Männer* also verloren? Kann eine Fotografie überhaupt die ganze
Wahrheit abbilden? Das Band in Regenbogenfarben, das um ein zweites Megafon gebunden ist, birgt eine hoffnungsvollere Deutung. Die Regenbogenfahne gilt als Symbol für die gesamte LGBTQIA+ Community. Kann sich durch diese kleine Geste – das Umbinden eines dünnen Bandes um ein Megafon – die Wirkung des Bildes verändern? Was als Demonstration von Frauen* begann, hat sich nun auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet? Und verändert sich dadurch die Revolution?

Revolution wird als „eine schnelle, radikale […] Veränderung der gegebenen (politischen, sozialen, ökonomischen) Bedingungen“⁴ definiert. Allerdings benutzen wir den Begriff heute im allgemeinen Sprachgebrauch auch für weitreichende Veränderungen in allen möglichen Bereichen. Die Erfindung des Smartphones beispielsweise hat im Jahr 2007 eine Revolution der Kommunikation eingeleitet. Diese technologische Entwicklung definieren Wissenschaftler:innen, die sich mit dem Phänomen der Revolution beschäftigen, aber nicht als solche, sondern eher als große gesellschaftliche Veränderung, die einer Revolution vorangehen könnte. So wären der arabische Frühling oder die Proteste in Hongkong 2019/2020 ohne Smartphone nicht in der Form möglich gewesen.

Die Fotografie hingegen zeigt eine Demonstration, die nach einer politischen Revolution ruft. Revolutionen sind „mit einem Führungs- und Machtwechsel“ verbunden und zielen auf die „Beseitigung der bisherigen Probleme“
ab, um neue Machtstrukturen, neue Eigentumsverhältnisse oder eine neue Verfassung zu schaffen.⁵ Revolutionen betreffen grundlegende Rechte und Bedürfnisse der Menschen und zielen auf einen Systemwechsel ab. Sie können zu gewaltvollen Auseinandersetzungen führen. Können, müssen aber nicht. Die Theoretikerin und Politologin Hannah Arendt verstand Revolution als das Anfangen des miteinander Handelns und sieht Gewalt nicht unmittelbar mit Revolution verknüpft.⁶

Wann fangen wir denn überhaupt an miteinander zu handeln? Wenn wir aktiv zum Protest aufrufen, wie der Mann* mit dem Megafon? Als einzelne Person während einer Demonstration? Wenn wir zufällig in einen Protest hineingeraten? Als Mensch, der die Protestierenden fotografiert, wie die Künstlerin Lilian Mauthofer und den Protest in den sozialen Netzwerken unterstützt? Wenn wir mit dem Smartphone die Nachrichten empfangen und weiterleiten? Wo beginnt eigentlich Revolution und wo endet sie?

Seit 2011 demonstrierten beispielsweise Menschen in der Occupy-Bewegung nicht nur für ein anderes System, sondern organisierten dieses bereits in neuen Formen des Protests und des solidarischen Zusammenlebens. Ist das eine Revolution? Würde ich gerne Teil einer Revolution sein? Wenn ich von mir spreche, dann spreche ich aus einer weißen, mitteleuropäisch privilegierten Sicht auf die Welt. Ich bin in Deutschland geboren und habe in meinem Alltag keine existenziellen Sorgen. Auf Demonstrationen gehe ich, weil ich es als mein Recht und meine Pflicht mir und anderen gegenüber wahrnehme. Dennoch habe ich mich nie in der Lage befunden auf die Straße gehen zu müssen, weil meine Existenz akut bedroht war. Obwohl es mir hier gut geht, bemerke ich als weiße cis-Frau trotzdem ein Ungleichgewicht.

Würde ich also gerne Teil einer Revolution sein? Wie geht es dir? Wärst du gerne Teil einer Revolution?

¹ Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. München 2018. 38.
² Jeannet Hommers: Gestik, in: Martin Warnke/ Uwe Fleckner/ Hendrik Ziegler (Hrsg.), Handbuch der politischen Ikonographie.
München 2011. 419.
³ Zug der Frauen nach Versailles. https://www.br.de/alphalernen/faecher/geschichte/franzoesische-revolution-marktfrauen-100.html (abgerufen am 25.05.2020).
⁴ vgl. Klaus Schubert/Martina Klein: Das Politiklexikon. Bonn 2018.
⁵ Vgl. ebd.
⁶ Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 1987. 53.

„[T]he purpose of revolution is the
realization of one of the greatest and most
fundamental human potential, namely the
incomparable experience of being free for
a new beginning […]“¹

– Hannah Arendt

A sea of people, arms raised, flags waved, flashlights from cell phone cameras and two megaphones. All bathed in reddish light. The crowd in a street, packed together, in front of a building filling the entire background of the photograph. A street no longer exists, people have completely occupied it.

The upper half of the picture is dominated by waved Lebanese flags. The waving of the Lebanese flag in this protest functions like „hoisting the flag [in in the case of territorial seizures]“² :Here it is not the seizure of a foreign land, but the repossession of one’s own land by the general public itself; led by women*. The People no longer want to see the country run by corrupt governments and demand their right to co-determination. The photograph is divided by a gap in the crowd diagonally from the bottom right to the top left. From an art historical perspective, the right half of it would fit perfectly into the depictions of numerous triumphal processions or protest marches: all bodies are turned in the same direction; there are flags and corresponding gestures. Such depictions also exist of the French Revolution, as evidenced by images of the procession of market-women to Versailles on 5 October 1789.³

Again, it is women* who protest. While today we are accustomed to such a dynamic scenery by many other demonstrations, we see a different scene on the left side of the photograph: Here people are turned into the opposite direction. However, they do not act as the opposing side, as can be observed in numerous demonstrations, for example when the police line up in front of demonstrating people. The people rather seem to gather around a man* in the center of the photograph. Although only the upper part of his body is visible – the rest disappears in the crowd – his arms, which are raised high above, are not only emphasized by their extreme posture, but also by the way they are illuminated. This hand
gesture could be a sign of rejoicing. But we also know this gesture from speeches when the speaker asks for silence. The role of the man* in the photograph as a speaker is further emphasized by the megaphone in his left hand. The megaphone can be read as a symbol of the voice of the people rising up against the government. The crowd gathers around this man* to listen to him.

In the Thawra, women* have a leading role. However, the photograph refers to a different situation. None of the women* is a spokeswoman/person here. The men* occupy the speaking roles, because the second megaphone in the photograph is also owned by a man*. Have the women* lost their power of speech in favour of men*? Can one photograph even represent the whole truth? A more helpful interpretation can be found in the rainbow coloured ribbon, which is tied around a second megaphone. The rainbow flag is a symbol for the entire LGBTQIA+ community Is it possible that this small gesture – tying a thin ribbon around a megaphone – can change the effect of the image? Has –what began as a demonstration by women* – now spread to the entire population? And does this change the revolution?

Revolution is defined as „a rapid, radical change in the given (political, social, economic) conditions“.⁴ Nevertheless, in common parlance today we also use the term for far-reaching changes in all possible areas. The invention of the smartphone, for example, initiated a so-called revolution in communication in 2007. This technological development, however, is not defined as such by scientists working on the phenomenon of revolution, but rather as a major social change that could precede a revolution. For example, the Arab Spring or the protests in Hong Kong in 2019/2020 would not have been possible in this form without smartphones. The photograph here, in contrast, shows a protest that calls for a political revolution. Revolutions are "associated with a change of leadership and power" and aim to „eliminate the problems of the past“ in order to create new power structures, new ownership structures or a new constitution.⁵

Revolutions affect basic human rights and needs and target a change of system. They can lead to violent conflicts. They can, but do not have to. Theorist and political scientist Hannah Arendt understood revolution as the beginning of acting
together and did not see violence directly linked to revolution.⁶ When do we start acting together anyway? When we actively call for protest, like the man* holding the megaphone? As a single person during a demonstration? When we accidentally get involved in a protest? As a person who takes pictures of the protesting people, like the artist Lilian Mauthofer who supports the protest in the social networks? When we receive and forward messages with our smartphones? Where does revolution actually begin and where does it end? Since 2011, for example, people in the Occupy movement have not only been protesting for a different system, but have already organized it in new forms of protest and solidarity living arrangements. Is this a revolution?

Would I like to be part of a revolution? When I speak of myself, I speak from a white, central European privileged view of the world. I was born in Germany and have no existential threats to my everyday life. I attend demonstrations because I see it as my right and my duty to myself and others. Yet I have never found myself in a position to go out into the streets because my existence was acutely threatened. Although I am doing well here, as a white cis woman/female I still notice an imbalance. So would I like to be part of a revolution? How are you doing? Would you like to be part of a revolution?

¹ Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. München 2018. 38. translation by the author.
² Jeannet Hommers: Gestik, in: Martin Warnke/ Uwe Fleckner/ Hendrik Ziegler (Hrsg.), Handbuch der politischen Ikonographie.
München 2011. 419. translation by the author.
³ Zug der Frauen nach Versailles. https://www.br.de/alphalernen/faecher/geschichte/franzoesische-revolution-marktfrauen-100.html (accessed 25.05.2020).
⁴ Klaus Schubert/Martina Klein: Das Politiklexikon. Bonn 2018. translation by the author.
⁵ see ibid.
⁶ Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 1987. 53. translation by the author.